DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Neuanfang

Briefe aus der Zukunft 1

Jetzt sind es schon bald zwanzig Jahre alter Freund, dass du nicht mehr unter uns weilst – aber ich hänge immer noch hier rum. Als du dich verabschiedet hast, waren es ja sehr bewegte, sehr aufregende Zeiten, alles war im Umbruch, alles schwierig und es war überhaupt nicht klar, wie es weitergehen wird; ja sogar, ob es überhaupt weitergeht.

Aber heute habe ich gedacht: Doch! Es geht weiter und es wird gut werden. Und da musste ich natürlich an dich denken – was ich sowieso dauernd mache – und es tat mir umso mehr leid, dass du es nicht mehr erlebst. Du bist immer verzweifelt an der Unvernunft der Menschen, an ihrer Unbelehrbarkeit, an ihrer Selbstbezogenheit – und hast trotzdem mit freundlicher Entschlossenheit immer weitergemacht. Wie freute ich mich, würdest du erleben, wie sich die Dinge nach und nach doch in die richtige Richtung entwickeln. Aber du bist nicht mehr da und ich werde es wohl bald auch nicht mehr sein. Aber ich schreibe dir jetzt trotzdem einfach mal, wie es heute so ist.

Womit soll ich anfangen? Eigentlich hat sich alles geändert. Ich beginne mal mit unserem Dorf und seinen Bewohnern. Stell dir vor, wir sind jetzt fast doppelt so viele wie früher! Und das, obwohl es ja in den schlimmen Jahren eine Menge Todesfälle gab. Aber es sind viele aus der Stadt hergezogen. Manche hatten hier vorher schon eine Datsche, andere sind ganz neu. Und natürlich haben sich viele Flüchtlinge angesiedelt. Ein paar davon auch von unseren Küsten, aber die meisten stammen natürlich von den versunkenen Inselstaaten und aus Afrika.

Ganz genau weiß ich es nicht, aber Deutschland hat allein in den letzten zwanzig Jahren jedes Jahr bestimmt eine halbe Million Flüchtlinge aufgenommen, wahrscheinlich noch viel mehr. So viele Menschen verloren ihr Zuhause, das Wasser, die Brände, die Hitze, die Kriege, es war furchtbar.

Erinnerst du dich, wie wir früher darüber stritten, wie man dunkelhäutige Menschen nennt? Heute sind sie überall – und ich sehe sie gar nicht mehr. Es fällt mir einfach nicht mehr auf. In unserem Gartenhaus lebt nun schon einige Jahre eine senegalesische Familie; die nettesten Menschen, die du dir vorstellen kannst.

Und, du wirst es nicht glauben, ich habe jetzt deinen Job als Dorflehrer übernommen. Ich! Irgendjemand musste den Flüchtlingen halt über die ersten sprachlichen Hürden helfen, es kamen ja immer mehr und es war klar, dass sie wohl bleiben würden – wo sollten sie auch hin? Da habe ich es einfach versucht, in meinem Alter kann ich ansonsten ja nicht mehr allzu viel helfen. Und weißt du was? Es macht ungeheuren Spaß!

Wenn ich an früher zurückdenke, an die Zeit, als wir glaubten es ginge immer so weiter – na gut, als ich glaubte, dass wir immer weitermachen könnten wie bisher – dann erscheint mir das ganz unwirklich, wie aus einem Film. Wie konnten wir derartig rücksichtslos, derartig verantwortungslos sein? Ich kann es heute nicht mehr begreifen. Aber ich muss mich erinnern. Schließlich unterrichte ich nicht nur die Flüchtlinge, sondern nachmittags auch immer mal die Kinder. Und es ist so wichtig, dass sie erfahren wie alles kam. Ich bin sozusagen ein Zeitzeuge der Vergangenheit.

Übrigens spricht heute niemand mehr von der ‚guten alten Zeit‘. Interessant, nicht wahr?

Bis zum nächsten Mal.