DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Schlachtmal

Tut mir leid alter Freund, dass ich solange nicht geschrieben habe. Ich habe sicher schon ein halbes Dutzend Anfänge in der Schublade, aber dann hat mich immer irgendetwas unterbrochen. Aber das muss ich dir jetzt doch unbedingt schreiben: Wir waren nämlich gestern seit langem mal wieder in der Stadt.

Die hat sich auch kolossal verändert, du würdest staunen, aber das berichte ich ein anderes Mal. Heute will ich dir vom Grund unseres Ausflugs erzählen: Der Einweihung des Schlachtmals.

Und nein, ich habe mich nicht verschrieben, da fehlt kein ‚h‘ – sonst würde ich dir auch kaum davon schreiben, schließlich war dir das Fleischessen immer unangenehm. Auch wenn du dich manchmal zu einer Bratwurst hast überreden lassen.

Nein, es ist ein Mahnmal für die geschlachteten Tiere, insbesondere für die, die in unserer Zeit der industriellen Tierproduktion ihr Leben lassen mussten. Es war eine Initiative von Kindern die dazu geführt hat. Zuerst hatten sie ziemlich viel Gegenwind. „Wir haben gerade wirklich andere Probleme!“ und „Das nützt doch wirklich überhaupt nichts.“ waren so die typischen Argumente. Oder auch „Das war damals eben so.“ Aber wie die Kinder heute so sind, haben sie sich überhaupt nicht beirren lassen und einfach angefangen. Und nach und nach haben sie von allen Seiten Unterstützung bekommen, es wurde eine richtig große Bewegung, auch in anderen Ländern. Die Kinder scheinen sich da überall sehr einig zu sein.

Und es ist wirklich schön geworden das Schlachtmal, schön in seiner ganzen Schrecklichkeit. Es ist eine Wand aus dünnen Metallplatten, die sich durch den Tiergarten schlängelt. Sie beginnt gegenüber dem Brandenburger Tor ganz flach und steigt dann langsam an, bis sie schließlich gut einen Meter hoch ist. So geht es dann ziemlich lange in Windungen durch den Park, bis sie schließlich wieder knapp über dem Boden irgendwo endet. Und die ganze Wand ist übersät mit kleinen Löchern. So klein, dass man sie gerade fühlen kann.

Jedes Loch steht für ein Tier.

Und damit nicht genug, das ganze Mahnmal steckt voller Symbolik, Greta, mein jüngste Urenkelin (du glaubst nicht, wie viele Mädchen heutzutage Greta heißen), hat es mir ganz stolz erklärt:

Erst hatte man überlegt, die Platten höher zu machen. Damit sie beeindruckender sind und man mehr Löcher unterbringen kann. Aber dann wäre eine Wand im Tiergarten gewesen, über die man nicht hinwegsehen könnte. Das hätte zwar eine schöne eigene Symbolik, wäre aber nicht schön für den Park gewesen. Also sind die Platten jetzt eher in Kindergröße und Erwachsene müssen, wenn sie sie mit ihren Kindern zusammen ansehen wollen, davor auf die Knie gehen. Das fand man auch ganz schön.

Der Verlauf, mit seinem langsamen Anstieg von knapp über dem Boden, symbolisiert die Fleischerzeugung (entschuldige bitte das furchtbare Wort) vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute. Auf den großen Platten sind ungefähr vierzigtausend Löcher – die genaue Zahl habe ich vergessen. Auch wieder Symbolik: So viele Tiere wurden hierzulande in einer Schlachtfabrik durchschnittlich jeden Tag getötet. Die Löcher wiederum sind nicht glatt gebohrt, sondern haben einen ganz rauen Rand. Man spürt es, wenn man mit dem Finger drüber fährt. Das Leben dieser armen Wesen lief nämlich nicht glatt, sondern war vom ersten bis zum letzten Moment ihrer Existenz eine Qual.

Und dann gibt es – zufällig verstreut – andere Löcher. Greta sagte, so ungefähr eins von achtzig. Sie sind nicht gebohrt, sondern irgendwie reingeschlagen. Ihr Rand ist völlig zerfetzt. Sie erinnern an die Tiere, die besonders gelitten haben. Zum Beispiel weil sie verletzt transportiert wurden oder – was immer wieder vorkam – lebend und bei Bewusstsein in den mechanischen Schlachtprozess kamen.

Das Band im Tiergarten ist etwa sechs Kilometer lang. Als wir es abgelaufen hatten, war ich sehr still und sehr beeindruckt (und sehr müde). Und sagte dann etwas zu Greta wie „So viele Tiere“. Da sah sie mich an und sagte ganz ruhig, ja, und das sind weniger als zwei Monate eines typischen Jahres. Da wurde mir ganz schlecht und ich musste mich erstmal hinsetzen.

Sie erklärte mir dann, dass die Kinder gerne ein ganzes Jahr abgebildet hätten. Aber das wären dann 45.000 Platten gewesen und das Band wäre weit über 30 Kilometer lang geworden. Da wäre der Tiergarten kaum noch normal nutzbar gewesen.

Aber es gibt ja nicht nur dieses eine Schlachtmal, sagte sie. Viele Städte und Gemeinden haben eigene aufgestellt und es kommen immer noch mehr dazu. Man wird die wirkliche Zahl der Tiere wohl trotzdem nicht erreichen, aber es ginge ja um die Symbolik und um die Erinnerung. Und wenn man es mit all dieser Anstrengung nicht schafft ein Mahnmal zu errichten, das an jedes Tier zumindest mit einem kleinen Loch in einer Platte erinnert, dann hätte das doch auch seine ganz eigene Symbolik. Und da hat sie natürlich recht.

Die Einweihung war ein großartiges, wenn auch stilles Fest. Es waren unheimlich viele Menschen da, vor allem viele Kinder und Jugendliche. Aber schon von uns waren es ja allein sechs Enkel und Urenkel. Alle waren sehr feierlich. Was ich zuerst nicht verstand war, dass viele Leute etwas umgehängt hatten, das wie Gartenfotos aussah. Ich konnte es aber nicht genau erkennen – meine Augen sind nicht mehr, was sie mal waren. Greta hat mir auch das erklärt: Die Leute stellen in ihren Gärten kleine Schlachtmale auf und was sie umgehängt haben, sind Fotos davon. Sie rechnen ungefähr aus, für den Tod wie vieler Tiere ihre Familie verantwortlich ist und dann bohren sie entsprechend viele Löcher in eine Platte und stellen die in ihrem Garten auf.

Ich habe eine Weile darüber nachgedacht als sie mir das erzählte und ich merkte schon, dass sie neugierig war, was ich davon halte. Es war aber nicht leicht. Wir haben mittlerweile alle viel gelernt und wenn ich an mein Verhalten von früher denke, dann schmerzt mich das oft sehr. Greta wartete aber ganz geduldig und schließlich sagte ich ihr, dass ich früher ja sehr gerne Fleisch gegessen habe. Ob sie das denn wisse? Ja, sagte sie, ihre Oma hätte es ihr irgendwann erzählt. Und ob ich denn auch so ein Schlachtmal aufstellen würde, wo ich doch so viel Fleisch gegessen habe?

Sie fragte es ganz ruhig und freundlich, war gar nicht anklagend. Aber ich wusste, wie wichtig den Kindern diese Geschichte ist, wie sehr sie das alle beschäftigt. Schließlich fasste ich einen Entschluss, ich hockte mich vor sie (was mir nicht leichtfällt), nahm sie bei den Händen und sagte, dass ich das machen werde. Und das im Schuppen irgendwo noch mein alter Grill sein muss, auf dem viel von diesem Fleisch gelandet ist. Was sie davon halten würde, wenn wir den auseinandernehmen und aus den Blechen ein besonders schönes und auffälliges Schlachtmal bauen?

Du glaubst nicht, wie sie gestrahlt hat. Und dann fiel sie mir um den Hals und wir fielen beide um – aber das war es wert.

So mein Alter, ein anderes Mal mehr – ich muss jetzt erstmal ein Taschentuch suchen.