DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Tatortreiniger

So, ich muss dir unbedingt mal wieder schreiben. Es ist wie verrückt, ich denke immer ‚Du musst jetzt mal den letzten Brief beenden‘ – zum Beispiel dir den Eco erklären, aber es kommt immer so viel Neues, so vieles, was mich verblüfft, dass ich dann immer erst mal das loswerden will. Bereite dich also schon mal darauf vor, dass ich dir heute wohl wieder nur so eine halbe Geschichte erzählen werde.

Aber zunächst muss ich dich noch mal daran erinnern, dass sich die Welt völlig verändert hat, du würdest staunen. Alles ist anders als früher, vor allem natürlich das Wetter und die Temperaturen, aber auch der ganz normale Alltag: Die Menschen essen anders, kaufen anders ein, arbeiten anders, wohnen anders, reisen und bewegen sich anders, verdienen ihren Lebensunterhalt anders, haben andere Nachbarn, und und und … – man muss eigentlich sagen, dass, verglichen mit früher, die Welt Kopf steht.

Und neulich habe ich das mal angesprochen. Habe gesagt, dass ich mich sehr darüber wundere, wie viele Änderungen es in wie kurzer Zeit in unserem Leben gegeben hat und dass ich gar nicht verstehe, wieso nicht alles im Chaos versunken ist. Vor allem nach den unruhigen Jahren, da war es wirklich schlimm. Denn das muss man wirklich sagen: Nach all den Jahren, in denen sich die Verzweiflung der Menschen oft mit Händen greifen ließ, wird es seit einiger Zeit immer besser. Die Menschen sind irgendwie, wie soll ich sagen, ich glaube optimistisch aktiv trifft’s ganz gut.

Na, jedenfalls war das wieder so eine Gelegenheit, wo alle gleichzeitig auf mich einredeten und ich überhaupt nichts verstand. Irgendwann fingen dann alle an miteinander zu diskutieren und ich war raus. Ich hatte nur den Eindruck, dass es wohl irgendwas mit Religion zu tun hat. Wie auch immer, irgendwann kam eins meiner Patenkinder zu mir, der süße Bora und sagte, er lädt für einen der nächsten Abende mal jemanden ein, der mir dazu was erzählen kann – und der, er lächelte dabei, auch nicht unterbrochen werden wird.

Jedenfalls hat es nur zwei Tage gedauert und Bora kam tatsächlich mit jemandem den ich noch nie gesehen hatte. Dass jemand beim Essen ist, den ich nicht kenne, passiert zwar praktisch täglich, aber Bora kam mit ihm zu mir, stellte ihn mir als Farid ‚von den Kindern‘ vor und sagte, das sei derjenige von dem er gesprochen habe.

Beim Essen gab es die üblichen, munteren Diskussionen, aber ich merkte, dass die meisten immer mal wieder zu diesem Farid hinsahen. Der beteiligte sich kaum an den Gesprächen, schien dem Ganzen aber interessiert zu folgen.

Irgendwann verstummten nach und nach alle – was sehr ungewöhnlich ist – und Farid wandte sich an mich. Er bedankte sich für die Einladung und sagte sonderbarer Weise, er freue sich besonders hier zu sein, weil er ja wisse, dass die Plätze an meinem Tisch sehr gefragt seien. Ich habe keine Ahnung, was er damit meinte. Das hat mich in dem Moment total durcheinander gebracht und ich wollte gerade nachfragen, da sprach er schon weiter.

Von nun an hat im Wesentlichen er geredet, deshalb werde ich es einfach so aufschreiben wie ich es in Erinnerung habe. Das ist glaube ich am einfachsten.

Farid beginnt also: Wenn ich Bora richtig verstanden habe, er nickt in dessen Richtung, dann wunderst du dich, warum es so aussieht, als ginge es wieder bergauf mit der Menschheit – trotz all der Katastrophen die über uns hereingebrochen sind … und immer noch hereinbrechen. Korrekt?

Ja, sage ich aus vollem Herzen. Ich meine, .. ich war lange Zeit sicher, ich erlebe die letzten Tage der Zivilisation. Alles brach zusammen, es fehlte am Nötigsten. Dazu die Brände, die Stürme, die marodierenden Banden. Und jetzt … schau dich um … die Menschen lachen und singen, alle haben zu essen, die Städte blühen auf, alles funktioniert – vielleicht anders als früher, aber es funktioniert!

Er nickt, immer noch lächelnd. Das stimmt. Und du hast natürlich völlig recht dich zu wundern, denn genau das ist es eigentlich – ein Wunder. Aber ein Wunder, an dem viele Menschen mitgearbeitet haben. Sonst wäre es mit Sicherheit ganz anders gekommen. Und welchen Anteil die Kinder daran haben, kann ich versuchen, dir zu erzählen.

Die Kinder? rätsele ich. Nun ja, sage ich, sicher, die jungen Leute sind heutzutage wirklich gut drauf, sehr aktiv, sehr ideenreich.

Er sieht mich nachdenklich an. Das meinte ich eigentlich nicht, sagt er schließlich, ich meinte die Gemeinschaft der ‚Kinder der Schöpfung‘.

Er sieht mir wohl an, dass ich keine Ahnung habe, wovon er redet.

Wenn ich das richtig sehe, dann weißt du gar nichts über die Kinder?

Ähh, nein, sage ich vorsichtig.

Er lächelt breit und schüttelt den Kopf. Das ist mir noch nie passiert, sagt er staunend. Ich muss ja häufig etwas erklären oder Vorstellungen geraderücken – aber ich habe noch nie jemanden getroffen, der gar nichts über die Kinder weiß. Aber gut. Dann lass mich mal überlegen, wie ich am besten anfange.

Er schließt einen Moment die Augen, dann sagt er: Also, ich bin hier als der regionale Vertreter einer weltweit tätigen Gemeinschaft, die sich ‚Kinder der Schöpfung‘ nennt. Wir haben mit unserem Programm einen gewissen Einfluss auf die Politik …

Ich höre einige am Tisch losprusten und sehe viele ein Lachen unterdrücken.

Wie gesagt, fährt Farid lächelnd fort, wir haben über die Zeit einen gewissen Einfluss gewonnen. Dabei besteht unser Programm eigentlich nur aus einem Punkt … aber da komme ich gleich drauf.

Pass auf, sagt er, ich beschreibe dir erstmal in ganz groben Zügen das Konzept der Bewegung und welche Überlegungen dahinter stecken. Das wird schon einige Zeit dauern. Wenn du dann noch Fragen hast, darf ich ja vielleicht noch mal wiederkommen.

Von mir aus jederzeit, sage ich.

Okay, sagt er, sagen wir also einfach, dass sich irgendwann, so vor … na, es ist schon mehr als 20 Jahre her, eine ganze Menge Leute zusammengesetzt haben, denen … wie soll man sagen …, naja, die Rettung der Welt am Herzen lag.

Ich nicke gespannt.

Wir haben damals …

Du warst dabei? unterbreche ich ihn erstaunt.

Er nickt. Also, wir haben damals …

Wer ist denn ‚wir‘? unterbreche ich ihn abermals.

Das waren Abgesandte aller möglichen Ininiativen und Bewegungen, viele davon von der Neuen Aufklärung. Von denen hast du sicher schon gehört.

Ich nicke.

Also, fängt er wieder an zu sprechen, wir haben damals … Er grinst mich an, aber diesmal sage ich nichts. Er überlegt kurz und fährt dann fort, … uns war damals klar, dass es wohl unsere letzte Chance sein wird, die Katastrophe abzuwenden. Es war absehbar, dass die Infrastruktur mehr und mehr zusammenbrechen und Kooperation immer schwieriger werden würde. Wir waren deshalb auf der Suche nach einer radikalen, einer grundlegenden Lösung.

Du kannst dir vorstellen, dass das heiße Diskussionen waren und dass es hoch her ging bevor wir zu einem Entschluss kamen. Und dieses Ergebnis war natürlich auch ein Paket von Ideen und Maßnahmen, aber es war doch ziemlich konkret. Ich fasse dir das mal in ganz groben Zügen zusammen.

Zuerst mal das Problem: Der Mensch ruiniert durch sein Handeln die Lebenssphäre des Planeten.
Die Lösung: Damit aufhören.
Bleibt die Frage: Warum handelt der Mensch so?
Darauf gibt es natürlich eine Menge Antworten, aber letzten Endes steckt fast immer das Gleiche dahinter: Es ist das Bestreben, immer noch mehr Geld zu machen.

Die Lösung war aus unserer Sicht also: Den Menschen ein gutes Leben bieten, in dem Geld aber keine besondere Rolle mehr spielt.

Wir dachten uns eine ganze Menge verschiedene Maßnahmen aus, wie wir das erreichen könnten. Ich erzähle dir jetzt mal was zu dem, was ich davon für das Wichtigste halte.

Behalt dafür das hier mal im Hinterkopf: Wir wollten eine Gesellschaft schaffen, die es nicht nötig hat die Natur auszubeuten, weil sie an dem daraus resultierenden, kurzfristigen Gewinn kein Interesse hat. In dieser Gesellschaft wäre für jeden gesorgt und es gäbe keine extreme Ungleichheit. Dieser Punkt ist von besonderer Bedeutung, weil uns an einer stabilen, geeinten Gesellschaft liegt. Zum einen, weil das natürlich sowieso das ist, was man sich wünscht, zum anderen aber lässt sich nur so zielstrebig an der Wiederherstellung der Ökosysteme arbeiten.

Wissenschaft und Technik haben unglaubliche Dinge erreicht, aber wir können auf diesem Weg nicht weitermachen. Wir müssen innehalten und zunächst mal unser Haus wieder in Ordnung bringen. Es war eine Orgie der Schaffenskraft und des Feierns, aber jetzt muss auch mal aufgeräumt werden.

Ich hatte den Eindruck, dass er diese letzten beiden Sätze schon häufiger so gesagt hat und auch bei mir verfehlten sie ihre Wirkung nicht. Wir haben gefeiert und geprasst, haben über die Stränge geschlagen – aber man kann nicht immer feiern. Und man kommt nicht drum herum: Am Ende muss man alles wieder in Ordnung bringen.

So. So lange wollte ich eigentlich gar nicht schreiben, ich sollte längst im Bett sein. Aber es lief mir einfach so aus der Feder. Morgen mehr.

Gute Nacht.