DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Leichenschmaus

Hallo alter Freund,

nachdem ich dir letztens von unserem Besuch bei der Einweihung des Schlachtmals berichtet habe, dachte ich, ich schreibe dir heute mal, wie sich das Fleischessen mittlerweile so entwickelt hat.

Du hast ja noch mitbekommen wie es anfing: Als die Klimakatastrophe immer schlimmer wurde und sich die meisten Staaten einig wurden, dass drastische Maßnahmen ergriffen werden müssen, ging es ganz schnell. Innerhalb kurzer Zeit gab es fast kein Fleisch mehr zu kaufen. Und das lag gar nicht daran, dass es verboten wurde. Es konnte auch nicht mehr produziert werden.

Wir lernten damals (also mit wir meine ich: wir Fleischesser), dass die Tiere die wir tagtäglich so essen, zumeist zwar bei uns aufwachsen, dass das aber nicht für ihr Futter gilt. Das kommt zum ganz überwiegenden Teil aus Übersee. Und da die Millionen Hektar Regenwald, die für den Anbau der Futterpflanzen gerodet worden waren, nun schnellstmöglich wieder aufgeforstet werden sollten, gab es einfach kein Futter mehr. Das gleiche galt für die riesigen Weideflächen der Rinder in Südamerika, auch sie wurden wieder aufgeforstet.

Natürlich gab es einige Unverbesserliche die forderten, dass wir das Futter dann eben hier anbauen müssten (ich war, wie du dich erinnern wirst, einer davon). Wir erfuhren dann, dass die Fleischerzeugung eine ziemlich ineffiziente Art der Nahrungserzeugung ist und dass unsere landwirtschaftlichen Flächen dafür bei weitem nicht ausreichen würden. Außerdem sollten ja auch noch Obst, Gemüse und Getreide angebaut werden – obwohl ich das damals nicht besonders wichtig fand.

Die einzigen, die von dem Ausfall der Futterlieferungen unbeeinflusst waren, waren diejenigen Bauern, die so wie früher arbeiteten. Die also immer nur so viele Tiere hielten, wie sie vom eigenen Hof ernähren konnten. Das waren vor allem die, die man früher Biobauern nannte. Heute ist das wieder das normale. Leider war das durchaus nicht nur gut für sie, sie wurden oft ziemlich angefeindet. Viele, denen ihr tägliches Stück Fleisch fehlte, drehten richtig durch, wie Drogensüchtige. Und es gab Überfälle, Tiere wurden geraubt. Da sind furchtbare Sachen passiert.

Aber es sollte ja noch viel mehr Furchtbares passieren.

Heute hat sich alles wieder einigermaßen eingespielt. Die Bauern halten immer noch Tiere, aber eben viel weniger. Dadurch ist Fleisch etwas Besonderes geworden. Und heute muss ich sagen: Ist ja eigentlich auch richtig so. Es ist ein bisschen so, wie ich es von meinen Großeltern gehört hatte: Bei ihnen gab es fast nur Sonntags Fleisch, ansonsten mal Knochen in die Suppe, hier ein bisschen Speck, dort mal eine Wurst, aber damit hatte es sich dann auch.

Und die Tiere werden heute auch kaum noch in Ställen gehalten. Es gibt jetzt vor allem robuste Rassen, die gut das ganze Jahr draussen bleiben können. Winter wie früher gibt es ja sowieso nicht mehr. Ein Wetterschutz reicht meistens, der spendet dann auch Schatten, denn die Hitze ist natürlich oft ein Problem. Weil alle guten Böden für Getreide, Hülsenfrüchte und Gemüse benötigt werden, müssen die Tiere mit den kargen Böden zurechtkommen. Das klappt aber wohl ganz gut. Nach dem, was ich so höre, sind die Tiere viel gesünder als früher und brauchen so gut wie nie Medikamente.

Gottseidank hat es sich auch durchgesetzt, die Tiere direkt auf der Weide zu erschießen. Damit bleibt ihnen so viel Leid erspart, von einer auf die andere Sekunde ist es vorbei. Bei dem Massenbetrieb früher wäre das natürlich nicht möglich gewesen. Damit der Mensch es leichter hatte und die Produktion lief, hatten die Tiere unendlichen Stress.

Früher glaubte ich ja immer, Fleisch muss sein. Weil sonst etwas fehlt in der Ernährung. Dann gab’s plötzlich kaum noch welches und merkwürdigerweise ging das auch. Geholfen hat dabei sicher, dass viele der jungen Leute ja schon lange Vegetarier waren, auch mein Schwiegersohn – und was habe ich mich früher über die lustig gemacht. Aber von ihnen haben wir gelernt, was man essen muss um sich alle nötigen Nährstoffe zuzuführen. Wer hätte denn gedacht, dass zum Beispiel Hülsenfrüchte und Getreide – richtig kombiniert, einem alle Proteine liefern die man braucht? Ich nicht.

Tatsächlich essen wir mittlerweile oft wochenlang gar kein Fleisch und ich weiß, dass es in vielen Familien ebenso ist. Die Einstellung hat sich mit der Zeit irgendwie geändert. Ich glaube, es fing mit der Aufklärung an.

‚Die Aufklärung‘, so nannte sich eine Bewegung, die vor vielen Jahren auf sehr geschickte Art damit begann, all die Schandtaten bekanntzumachen und zu erklären, die wir der Welt im Namen des Fortschritts angetan hatten. Du wunderst dich vielleicht, dass ich nicht ‚der Natur‘ sage, sondern ‚der Welt‘. Aber wir haben gelernt, dass es wirklich ‚die Welt‘ betrifft: Die Meere, die Tiere, die Pflanzen, die Atmosphäre und das Zusammenspiel des Ganzen – das Ökosystem. Und natürlich auch uns Menschen.

Daraus ist dann so nach und nach eine Ethikbewegung entstanden, die für Naturrechte und vor allem auch für Tierrechte eintritt. Sie hat sehr viele Anhänger und unter den jungen Leuten stellt sie sicher die herrschende Meinung dar – glaube ich zumindest. Aber wir sind ja sowieso schon alle seit Jahren darauf eingestellt, den Einfluss auf die Natur bei allem was wir tun mitzuberücksichtigen. Und da ist Fleischessen dann plötzlich überhaupt nicht mehr naheliegend.

Dabei haben alle irgendwann angefangen Tiere zu halten; jedenfalls alle die einen Garten haben. Zumindest ein paar Hühner hat jeder, aber auch Kaninchen, Ziegen, Schweine … Wir haben auch zwei, Hanni und Nanni. Und während ihre Vorgänger kaum älter als zwei, drei Jahre wurden, sind die beiden jetzt schon fast zehn. Natürlich ist es Quatsch, Schweine zu halten und sie dann nicht zu schlachten, schließlich geben sie keine Milch, aber vermutlich werden sie trotzdem an Altersschwäche sterben, nicht an durchstochener Halsschlagader.

Es ist es uns einfach nicht wert. Ein Leben zu nehmen, um dann Fleisch zu haben das wir nicht wirklich brauchen. Schließlich leben wir auch so. Wir leiden keinen Hunger, nicht mehr. Und Schweine sind reizende Tiere, intelligent, sensibel, verspielt. Sie sind viel mehr als einfach ‚Fleisch‘.

Und ich weiß auch, dass es bei vielen Nachbarn ähnlich ist. Deren Tiere werden auch immer älter. Merkwürdigerweise meinen viele, sich dafür entschuldigen zu müssen: Man möchte es den Kindern oder den Enkeln nicht antun. Und das ist sicher richtig, die meisten Kinder wären erschüttert, wenn sie plötzlich ihr geliebtes Hausschwein auf dem Teller hätten. Aber ich glaube, dass das nicht die ganze Erklärung ist. Wir haben uns alle verändert, die Stimmung ist eine andere.

Neulich war ein großes Schlachtfest bei Nachbarn, das Schwein hatte sich verletzt und war getötet worden. Es gab Fleisch vom Grill, Gulasch, jede Menge Wurst – na, du weißt schon. Aber es gab auch viele Bilder von dem Tier, Margarete, so hieß es. Und Videos. Als übermütiges Ferkel, wie es mit den Kindern spielte, wie es sich vergnügt im Schlamm suhlte, wie es sogar bei einem Fest als Löwe verkleidet an einer Raubtiernummer teilnahm. Da hatten die Kinder lauter kleine Zirkusnummern eingeübt. Von der Löwenschweinenummer wurde noch ewig erzählt. Und jetzt lag Margarete also auf dem Grill. Ich muss dir sagen, mit diesen Bildern vor Augen, ich hatte keinen besonderen Appetit. Und damit war ich nicht der einzige.

Aber die Gastgeber, wunderbare Menschen die sie sind, hatten sich schon so etwas gedacht und waren darauf vorbereitet jedem etwas mitgeben zu können. Schließlich soll nichts umkommen (was hier ja eine sonderbare Doppelbedeutung hat), nein, Essen wird nicht weggeworfen.

Du siehst also, wir sehen, im wahrsten Sinne des Wortes, mittlerweile über unseren Tellerrand hinaus. Wir nehmen die Bedürfnisse anderer Wesen wahr und nehmen sie ernst. Erfreulicherweise auch die unserer Mitmenschen – aber darüber schreibe ich dir ein andermal.