DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Verschüttet

Hallo mein Alter,
letztens kamen ein paar der älteren Kinder zu mir, na ja, eigentlich muss man wohl Jugendliche sagen. Jedenfalls bearbeiten sie in der Schule gerade den jahrzehntelangen Nicht-Ausstieg aus den fossilen Energien, ihre Gruppe macht was zur Kohle. Dazu wollten sie von mir irgendwas hören - nur habe ich mich um so was ja nie gekümmert. Deshalb wollten sie meinem Gedächtnis mit einem Video auf die Sprünge helfen.
Das war spannend und davon erzähle ich dir heute.

In dem Video spricht eine junge Frau zu einer großen Versammlung streikender Bergleute. Das war wohl eine langjährige Klimaaktivistin, die immer ganz vorne dabei war. Im Zuge der sich zuspitzenden Krise hatte sie aber seit kurzem ein hohes Amt in der Politik, Staatssekretärin oder vielleicht sogar Ministerin, so genau weiß ich das nicht mehr. Ihr Name sagte mir auch nichts. Jedenfalls wurde dieser Streik sehr ernst genommen, sozusagen das letzte Hindernis auf dem Weg in eine - nun aber wirklich - klimagerechte Wirtschaft.

Der Streik zog sich schon einige Zeit hin und sie war wohl überraschend am Tag vorher in das Camp gefahren, hatte mit den Streikenden geredet und für den nächsten Tag diese spontane Rede angekündigt. Man war ziemlich gespannt, weil sie nicht für ihre Zurückhaltung bekannt war. Eigentlich gingen alle davon aus, dass sie die Arbeiter als dreckige Klimaschänder beschimpfen würde und dass danach überhaupt keine Verhandlungen mehr möglich wären.

Sie steht auf einer kleinen, improvisierten Bühne. Ziemlich dicht vor ihr sitzen viele, wirklich viele Bergleute, meist mit verschränkten Armen und ausdruckslosem, eher skeptischem Gesicht. Sie spricht die Männer direkt an; es sind ganz überwiegend Männer. Sie hat kein Pult vor sich und kein Mikrofon in der Hand, aber ihre Stimme wird offensichtlich verstärkt.

Ich habe mir nicht alles von ihrer Rede merken können, aber das Wichtigste schon:

Ihr habt gekämpft für den Fortbestand der Mine, für die Möglichkeit, weiter eurer Arbeit nachgehen zu können. Einer Arbeit die ihr liebt, die schon eure Väter und Großväter stolz vollbracht haben, für die sie geehrt wurden. Für die Nöte und Gefahren unter denen sie geleistet wurde, aber auch für das, was sie zutage brachte: Schwarzes Gold.
Eine Ehrung, die ihr - wie mir viele von euch gesagt haben - nicht erfahrt. Im Gegenteil. Ihr habt mir berichtet, dass nicht gewürdigt wird was ihr leistet, sondern das ihr angefeindet und beschimpft werdet. Manch einer hat mir unter Tränen erzählt, dass die eigenen Kinder sich für seine Arbeit schämen würden. Ihr fühlt euch missachtet.

Lasst mich euch - und vor allem dem ganzen Land sagen: Das ist nicht richtig!

Die Gesellschaft, jeder Einzelne schuldet euch für euren Einsatz Dank! Ihr seid es, die - oft unter Einsatz eures Lebens und eurer Gesundheit - den Wohlstand dieses Landes und seiner Menschen erst ermöglicht haben. Die Kohle lieferte die Energie für die Kraftwerke, die den Strom für die Maschinen erzeugten.
So wie niemand Brot hat, wenn der Bauer nicht sät, so hätte es ohne die Kohle die Wirtschaft nicht gegeben.

Deshalb möchte ich heute Danke sagen.
Danke, dass ihr, so wie viele Generationen Bergleute vor euch, das getan habt, was die Gesellschaft von euch forderte. Ja, forderte. Sie erbat es nicht. Niemand wurde höflich gebeten, sein Leben und seine Gesundheit hunderte Meter tief im Berg aufs Spiel zu setzen. Der Bergmann tat, was zu tun war. So lange es eben ging und oft auch darüber hinaus. Und wenn es gar nicht mehr ging, war er meist noch kein alter Mann aber sein Körper erinnerte ihn täglich - manchmal bei jedem Atemzug daran, was ihm angetan wurde. Was der Kumpel sich selbst angetan hatte, im Dienste der Gesellschaft.
Deshalb Danke!

Die Rednerin verharrt einige Augenblicke still, mit gesenktem Kopf, sie scheint mit den Tränen zu kämpfen. Schließlich fährt sie aber mit ruhiger Stimme fort:

Aber alles hat seine Zeit.
Es war lange Zeit so, dass wir Kohle verbrannten um Strom zu erzeugen - aber wir haben jetzt andere Möglichkeiten. Und sie sind besser. Denn was wir lange Zeit nicht wussten - oder nicht wahrhaben wollten, ist, dass wir durch die Verbrennung der Kohle den Planeten für uns nach und nach unbewohnbar machen. So einfach ist es.
Ich weiß, dass es Menschen gibt, die euch erzählen dass das nicht wahr ist. Glaubt ihnen nicht. Sie lügen euch ins Gesicht.

Alles hat seine Zeit. Die Kohle hatte ihre. Und ihr habt es ermöglicht. Aber wenn sich die Verhältnisse ändern, ist es sinnlos auf gleiche Weise weiter zu machen.

Wenn das Land angegriffen wird, lassen von einem Tag auf den anderen alle ihr Arbeitsgerät fallen, ob das die Maurerkelle, die Computertastatur oder der Kochlöffel ist und greifen zur Waffe. Aber wenn die Schlacht geschlagen, der Feind besiegt ist, kehren sie wieder an ihren Arbeitsplatz zurück oder suchen sich etwas Neues, bauen Zerstörtes wieder auf.

Bitte verzeiht dieses drastische Bild, was ich sagen will ist folgendes: Manchmal erfordern es die Verhältnisse, dass wir uns umorientieren. Niemand kann darauf beharren, dass die Tätigkeit die er sich ausgesucht hat, für alle Zeiten von der Gesellschaft honoriert zu werden hat.

Stellt euch zum Beispiel vor, dass das Steuersystem endlich so vereinfacht würde, dass es völlig unkompliziert wäre und der normale Mensch damit nichts mehr zu tun hätte. Dann wären mit einem Schlag tausende Steuerberater überflüssig. Und hunderte Finanzjournalisten und Ratgeberschreiber. Und natürlich auch zehntausende Mitarbeiter der Finanzämter.

Sollen wir ihnen zuliebe auf die Vereinfachung verzichten? Vermutlich würden sie - ähnlich wie ihr - für den Erhalt ihrer Arbeitsplätze demonstrieren.

Sollen sie! ruft jemand.
Sollen sie streiken, ruft ein anderer. Je länger je lieber!
Großes Gelächter, die Rednerin lacht und reckt den Daumen nach oben.

Ihr versteht was ich meine: als Gesellschaft entwickeln wir uns weiter. Wir finden für alte Probleme immer wieder neue und immer bessere Lösungen. Und Strom, der abgasfrei erzeugt wird, ist besser. Das Ziel des Kohlebergbaus war es ja nie, Löcher in den Berg zu bohren oder die Landschaft abzutragen. Es ging um die Energie, die in der Kohle steckt. Diese Energie steht uns nun aber auf eine viel sinnvollere Art zur Verfügung.

Deshalb bitte ich euch, euren Arbeitskampf aufzugeben und für euch eine andere Arbeit zu finden. Eine, die ihr eurer Fähigkeiten, eures Elans und eurer Einsatzbereitschaft für würdig erachtet.
Ihr wisst, dass ihr alle nötige Unterstützung bekommen werdet.

Danke.

Ihre Rede ist zu Ende und sie setzt kurz an herunter zu steigen, bleibt dann aber auf der kleinen Bühne. Bleibt still dort oben stehen und wie die Kamera heranzoomt, sieht man wie sie zittert, wie ihre Lippen beben. Nichts ist zu hören. Nicht das leiseste Murmeln.

Die Kamera fährt langsam über das Publikum. Die Männer sitzen wie erstarrt, schauen ins Leere, viele scheinen die Zähne zusammenzubeißen. Nach und nach, fast widerstrebend, stehen einzelne auf und beginnen langsam, sehr langsam zu klatschen. Immer mehr erheben sich, bis schließlich alle stehen und auf eine sehr ruhige, aber sehr eindringliche Art applaudieren. Es sind keine Ovationen, wie man sie auf einem Konzert oder bei einem Parteitag erleben würde. Es ist durchaus ein stürmischer Applaus, nur das dieser Sturm im Schritttempo daherkommt. Es ist der Applaus kräftiger Männer, die es gewohnt sind ihre Kraft mit Bedacht einzusetzen.

Die Kamera nimmt wieder die Rednerin ins Bild und man sieht wie sie anfängt zu schluchzen, ihre Tränen fließen in Strömen, gleichzeitig lacht sie und strahlt über das ganze Gesicht. Während sie sich mit dem Ärmel die Tränen abwischt, verlässt sie die Bühne und geht zu den Bergleuten, geht durch die Menge, berührt Männer an der Schulter, gibt ihnen die Hand oder klatscht sie ab, wenn es ihr angeboten wird. Plötzlich stolpert sie, wird aufgefangen und mit einem Mal umarmt sie den, der sie gestützt hat. Und einen weiteren und noch einen. Schließlich ist sie in der Menge der Männer kaum noch zu sehen. Die Kamera schwenkt langsam auf einige am Rand stehende, sehr nervös wirkende Männer und Frauen, offensichtlich Sicherheitsleute. Nach einigen langen Momenten aber teilt sich die Menge der Bergleute und sie tritt daraus hervor.

Das war das Ende des Films und es war das Ende des großen Bergarbeiterstreiks.

Allerdings konnte ich den Kindern immer noch nichts dazu sagen, weil ich mich gar nicht an diesen Streik erinnerte. Tu ich auch jetzt nicht.

Vor allem aber ich konnte ihnen deshalb nichts erzählen, weil ich mit einem Mal anfing zu heulen und gar nicht mehr aufhören konnte.

Sie waren ganz betroffen und natürlich musste ich ihnen erklären, was los war.

Nur war es mir leider gar nicht klar, was da über mich gekommen war. Es hatte jedenfalls nichts mit diesen Bergleuten zu tun. Ich musste richtig ... wie soll ich es sagen ... ja, ich musste kämpfen, um die Erkenntnis zuzulassen. Ich wollte buchstäblich nicht daran denken. Aber plötzlich platzte der Knoten doch: Es war genau diese Anerkennung, die ich mir, die wir alle uns damals gewünscht hätten. Damals, als unser Kombinat von einem Tag auf den anderen geschlossen wurde. Als es hieß, wir seien nicht wettbewerbsfähig. Als so getan wurde, als sei alles was wir bis dahin getan hatten, nutzlos und minderwertig gewesen. Ja, Anerkennung und Wertschätzung wären schön gewesen. Statt dessen gab es Umschulungen und sinnlose Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und immer herablassende Behandlung.

Ich war mit einem Schlag mehr als sechzig Jahre jünger, aber es fühlte sich überhaupt nicht gut an.

Das war vorgestern. Gestern habe ich kaum mein Zimmer verlassen ... naja, tatsächlich habe ich kaum mein Bett verlassen. Die Erinnerung hat mich richtig umgehauen. Heute habe ich mich gezwungen aufzustehen, aber ich bin immer noch ... verstört. Ich merke, dass dieser Ärger all die Jahre in mir gebrodelt hat. Jetzt wird es langsam besser. Das Aufschreiben und das Erzählen haben geholfen. Und ... naja, es ist ja auch lange vorbei. Ich lebe in einer völlig anderen Welt, bin auch selbst ein völlig anderer ... und eben auch nicht verdammt, irgendwo da drinnen ist immer noch dieser zornige junge Mann, es ist verrückt.
Aber es geht ihm jetzt schon ein bisschen besser.

Bis bald alter Freund