DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Schöpfungsgedanken

Hallo mein Alter,
du wirst es nicht glauben, aber ich schreibe heute morgen tatsächlich gleich weiter – ohne Frühstück!
(Aber wahrscheinlich wird mir irgend jemand gleich etwas bringen, es ist ganz rührend, wie man sich um mich kümmert.)

Also, Farid hatte mir die Ausgangssituation beschrieben, jetzt ging es darum, wie sie vorgehen wollten.

Farid: Die Frage war, wie bringen wir die Menschen dazu, aus jahrzehntelang eingeübten Gewohnheiten auszubrechen? Es half, dass wir nicht alle überzeugen mussten. Zum Einen war vielen schon klar, dass sich etwas ändern muss und zum Anderen ging es nicht um Abstimmungsmehrheiten – die politischen Systeme waren in vielen Ländern sowieso kaum noch arbeitsfähig. Wir mussten nur genug Menschen überzeugen, dass sie eine zugkräftige, Hoffnung machende Bewegung bildeten.

Aber natürlich mussten wir möglichst schnell möglichst viele Menschen für unsere Ideen gewinnen. Du hast es ja erlebt, es stand auf Messers Schneide ob die Zivilisation zusammenbricht oder nicht. Wir mussten das Ruder in die richtige Richtung drehen und dafür brauchten wir überall auf der Welt Mitstreiter, viele Mitstreiter. Natürlich war jeder einzelne Helfer willkommen, aber es gab eine Gruppe, an der uns besonders viel lag: religiöse Menschen.

Sie vereinen viele wichtige Eigenschaften: Sie sind gut vernetzt, sie sind praktisch immer bereit sich für ihre Sache einzusetzen, haben meist beträchtlichen Einfluss und sind in vielen Gegenden der Welt auch meinungsbildend. Und hast du sie ersteinmal von etwas überzeugt, dann braucht es einiges um sie davon wieder abzubringen. Kurz gesagt: Hat man Gläubige auf seiner Seite, hat man schon mal eine ziemlich wirkungsvolle Streitmacht.

Wir konnten uns aber unmöglich auf die Anhänger einer Religion beschränken. Alle mussten zusammenarbeiten können, egal welchem Glauben sie anhingen, welche Weltanschauung oder welchen kulturellen Hintergrund sie hatten.

Er nickt sinnierend, offensichtlich in Erinnerung versunken und fährt dann fort: Das ist uns glaube ich, alles in allem, recht gut gelungen. Tatsächlich war es letztlich gar nicht so schwierig, denn unser Anliegen ist ja gleichzeitig ein religiöses Kernthema: die Bewahrung von Gottes Werk, der Schöpfung. Sie haben wir zu unserem zentralen und einzigen Anliegen gemacht. Wir gehen dabei aber nirgends ins Detail und schweigen zu allen sonstigen religiösen Fragestellungen.

Unser Dogma ist sozusagen: Jede Religion hat recht. Wir akzeptieren einfach, dass es verschiedenste Religionen gibt. Auch, dass die Buchreligionen über schriftlich niedergelegte Worte Gottes verfügen. Natürlich gab und gibt es über diese Texte immer wieder Auslegungsstreitigkeiten, sie führten zu Kirchenspaltungen und jahrzehntelangen Kriegen. Aber keine dieser Auslegungen stellen wir in Frage oder diskutieren sie auch nur.

Wir geben allenfalls zu bedenken, dass die eigentlichen Ersteller der heiligen Schriften, die Propheten, die ja alle Menschen waren, geirrt haben können. Irren ist menschlich. Sie können göttliche Gedanken falsch verstanden oder falsch aufgeschrieben haben. Und selbst wenn das nicht der Fall war, dann gab es in späterer Zeit Abschriften der Originale und Übersetzungen, dabei kann es durch Missverständnisse, Unwissenheit oder auch durch Böswilligkeit zu Verfälschungen gekommen sein. Wir können also nie völlig sicher sein, ob die Texte die wir heute lesen, von Gott ganz genau so gemeint waren.

Es gibt aber eine Sache, derer sich jeder sicher sein kann, der an einen Schöpfer glaubt: Die Welt ist Gottes Werk. Die Welt die er geschaffen hat, wollte er genau so haben. Jedes Tier darin, das kleinste wie das größte, jede Pflanze, ja jedes Bakterium hat er so gestaltet wie es ihm richtig erschien. Und vielleicht war ihm der Mensch besonders wichtig, vielleicht auch nicht. In jedem Fall aber ist er sicher gut beraten, wenn er Gottes Werk möglichst wenig durcheinander bringt.

Oder was würdest du von jemandem halten, dem du deinen Hausschlüssel gibst, damit er bei dir wohnen kann und wenn du wieder nach Hause kommst ist dein Hund geschlachtet, alle Bäume sind gefällt und die Zimmer sind verwüstet und voller Müll?

Er sieht mich an und ich lächle gequält, denn das ist natürlich eine recht passende Analogie.

Natürlich wirst du jetzt sagen, fährt Farid fort, dass wir die Erde unmöglich wieder in ihren ursprünglichen Zustand versetzen können – und auch, dass die Milliarden Menschen die wir mittlerweile nun mal sind, dann nicht auf ihr leben könnten. Das ist richtig. Aber das entbindet uns nicht von der Verpflichtung, unser Möglichstes zu tun.

Tatsächlich vertreten viele sogar die Ansicht, dass die heute lebenden Menschen, die ja für den Zustand der Welt nur zum geringsten Teil verantwortlich sind, sich in den Augen Gottes besondere Verdienste erwerben, indem sie die Schäden an seinem Werk beheben. Das spricht gar nicht so wenige Leute an. Er lächelt nachdenklich. Was auch kaum erstaunlich ist, sagt er, wenn man bedenkt, dass es auch nie einen Mangel an Eiferern gab, die bereit waren sich für Gottes besondere Gunst selbst in die Luft zu sprengen.

Natürlich gehörte hierzulande die Mehrheit der Menschen keiner Kirche an, fährt er fort, zumindest nicht aktiv. Aber dadurch, dass wir uns ausschließlich auf die Bewahrung der Schöpfung konzentrieren und Gottes – mutmaßlichen – Willen ansonsten in keiner Weise ansprechen, schrecken wir Nichtreligiöse auch nicht ab. Ich kenne hartgesottene Atheisten, die mir sagen, dass sie den Begriff Schöpfung immer schon verwendet haben. Zwar widerspricht er total ihrer Einstellung – aber er passt einfach zu gut.

Und wir bieten ja noch mehr, denn auch wenn die Kinder keine Kirche sind, so gibt es bei uns doch all das, was die Gläubigen letztlich in die Kirche zieht: Gemeinschaft, Sinn, Zusammenhalt, Werte, Rituale und so weiter. Und das sind Dinge, die eigentlich allen Menschen wichtig sind. Selbst so etwas schlichtes wie gemeinsames Singen gehört dazu. Die Kirchen haben Jahrtausende Erfahrung darin, Menschen an sich zu binden und ihnen ein, wie soll ich sagen …, ja: ein gutes Gefühl zu geben. Er lächelt. Wir haben viel von ihnen gelernt.

Wir sind also eigentlich eine Kirche, aber ohne uns so zu nennen. Wir vertreten keinen bestimmten Glauben und wir widersprechen niemandem, der behauptet Gottes Absichten bis ins Letzte zu verstehen. Wir bestehen nur auf einer Sache: Die Erde ist Gottes Werk und deshalb müssen wir uns bemühen sie in so gutem Zustand zu erhalten, wie es uns möglich ist.

Das ist ein so kleiner gemeinsamer Nenner, dass sich alle dahinter versammeln können. Egal an was sie sonst glauben oder ob sie überhaupt etwas glauben.

Anfangs gab es natürlich immer mal wieder Kirchenleute, die gegen uns gewettert haben. Aber wir sind keine Häretiker, weil wir keinen Glauben ablehnen. Und wir sind offensichtlich auch keine Ungläubigen, weil der Glaube an die Schöpfung ja die Grundlage praktisch jeder Religion ist. Das hat sie nicht davon abgehalten es zu versuchen. Aber es ist schwer, nachvollziehbar gegen uns zu argumentieren. Es läuft irgendwie immer darauf hinaus, dem Schöpfer Fehler bei der Erschaffung der Welt zu unterstellen.

Letzten Endes hörte es auf. Denn unsere Arbeit machte allen Menschen gleichermaßen Mut und wer zu einer Gemeinde gehörte, besuchte nun auch deren Treffen und Gottesdienste häufiger. Und weil die Prediger und Pfarrer und Imame und Rabbis und wie sie alle heißen verstanden hatten, was das Thema der Stunde war, redeten auch sie wieder häufiger über die Schöpfung. So fanden sich nach und nach immer größere Teile der Bevölkerung in Übereinstimmung mit dem, was die Wissenschaft seit Jahrzehnten predigte: Wir müssen die natürlichen Systeme und Kreisläufe unterstützen, müssen die Biodiversität fördern, dürfen die Welt nicht als Müllkippe benutzen. Und so weiter.

So hat sich innerhalb weniger Jahre ein ganz anderer Lebensstil etabliert. Und das macht es wiederum der Politik leichter, sinnvolle Maßnahmen durchzusetzen. Die Politik funktioniert mittlerweile natürlich anders als früher, aber Politik gegen die Menschen kann nicht erfolgreich sein. Deshalb ist es gut, dass politische Maßnahmen heute meist nicht nur schöpfungsfreundlich, sondern auch menschenfreundlich sind.

Zusammengefasst kann man also sagen, dass unsere Arbeit wahrscheinlich einiges beigetragen hat zu der heutigen Einstellung der Menschen und damit zu ihrer Tatkraft und ihrem Optimismus, über die du dich ja so gewundert hast. Funktioniert hat das so aber sicher nur, weil wirklich niemand mehr abstreiten konnte, dass die Lage katastrophal ist. Wir befanden uns sozusagen an einem gesellschaftlichen Kipp-Punkt.

Er sieht wohl, dass ich nicht verstehe was er meint und erklärt: Du hast ja sicher von den ökologischen Kipp-Punkten gehört. Punkte, an denen ein Ökosystem sich komplett ändert – oder auch verschwindet. In deiner Jugend waren das zum Beispiel oft Seen, in denen durch Überdüngung alles abstarb – sie ‚kippten‘. Oder Gletscher die komplett abtauen, weil sie unter eine bestimmte Größe geschrumpft sind. Oder der tropische Regenwald, der auch eine Mindestgröße braucht um zu funktionieren. Immer gilt: nähert man sich einem Kipp-Punkt, reicht wenig, um die Natur des Systems völlig zu verändern.

So war es auch mit den menschlichen Gesellschaften: es brauchte nicht viel. Die alte Ordnung zerbröckelte; gleichermaßen unter dem Ansturm von Naturgewalten und Flüchtlingen. In vielen Gegenden der Welt wäre bald alles in Chaos und Barbarei versunken. In den reichen Nationen wäre es ähnlich gewesen – in manchen hatte es ja bereits begonnen. Zwar hätten sich da und dort zunächst wohl noch abgeschirmte Enklaven gebildet, in denen einige das alte Leben noch eine Zeitlang fortgeführt hätten. Aber ihr Schicksal wäre letztlich genau so besiegelt gewesen, wie das aller anderen.

Aber es war eben noch nicht gekippt. Es gab noch Strukturen, Ordnung, Kommunikation, Zusammenhalt. Die Menschen waren noch bereit zu hoffen. Und deshalb ergriffen sie den Strohhalm, den wir ihnen boten. Theoretisch hätten die Änderungen, die wir angestoßen haben, jederzeit erfolgen können. Bereits Jahrzehnte früher. Tatsächlich brauchte es aber wahrscheinlich diese besondere Situation.

An dieser Stelle wirft jemand ein, ich glaube es war Bora: Es brauchte aber auch euch. Und jemand anders sagt, ziemlich leise: Ja, sonst säße heute niemand von uns hier. Und alle nicken. Mit einem Mal herrscht eine recht bedrückte Stimmung.

Hey, ruft Farid, auf eine sonderbare Art belustigt und zornig zugleich, was ist denn hier los? Es gibt doch wohl immer noch genug, worüber ihr euch hier und heute sorgen könnt. Ihr braucht nicht auf das zurückgreifen, was hätte sein können – aber nicht ist. Er schaut in die Runde, scheint jeden einzeln anzublicken und nach und nach fangen alle zögernd wieder an zu lächeln, wenn auch zum Teil mit zusammengekniffenen Lippen. Mann, denke ich, ich wünschte, ich hätte so eine Autorität bei diesem Haufen.

So, sagt er, nun wieder an mich gewandt, das war es eigentlich auch schon. Sehr viele Menschen auf der Welt haben beschlossen, für’s erste mal anders weiterzumachen. Nämlich in der Richtung, in die wir sie gestuppst haben. Und da sich die Situation für die meisten Menschen kontinuierlich bessert, bin ich zuversichtlich, dass sie auf diesem Weg auch bleiben. Für uns kommt es jetzt vor allem darauf an zu verhindern, dass die Fehler der Vergangenheit wiederholt werden. Deshalb finde ich es großartig, dass du den Kindern und Jugendlichen immer erzählst, wie es früher war. Das ist eine unschätzbar wertvolle Arbeit.

Naja, sage ich achselzuckend, mache ich gerne … aber es sind ja, ich überlege, alles in allem höchstens dreißig, die regelmäßig kommen. Und einige sind noch ziemlich klein. Das macht sicher keinen großen Unterschied.

Farid sieht mich stirnrunzelnd an, dann schaut er fragend in die Runde. Einige schütteln den Kopf, andere lächeln entschuldigend. Irgend was geht hier vor, denke ich.

Er lächelt vor sich hin, dann scheint er einen Entschluss zu fassen. Wie auch immer, sagt er, ich freue mich jedenfalls darüber und ich schätze deine Arbeit sehr. Auf die jungen Menschen kommt es schließlich vor allem an.

Er erhebt sich.

Ich danke dir für deine Gastfreundschaft und wenn ich dir wieder einmal etwas erklären kann, so werde ich das gerne tun. Sag einfach Bora Bescheid. Er nickt zu ihm hin, verbeugt sich leicht in meine Richtung, macht eine sonderbare grüßende Geste in die Runde und während ich noch nach Worten suche, um ihm für seine geduldige Erzählung zu danken, ist er schon aus der Tür.

Und das war der Besuch von Farid von den Kindern. Ich habe gemerkt, dass ich ziemlich wenig davon weiß, wie es heute so läuft. Und das ist wohl auch kein Wunder, denn ich komme ja kaum noch raus, muss mich um nichts selber kümmern. Das meiste von dem, was in der Welt so vorgeht, erfahre ich aus den Erzählungen der anderen. Und mich beschleicht ein bisschen das Gefühl, dass man mir nicht immer alles erzählt.

Na, ich werde dich auf dem laufenden halten.

Für heute, mach’s gut!