DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Übungsweise - Meisters Werk 4

Der Meister machte sich nun immer mehr Gedanken über das Lehren und das Lernen. Jetzt, sagte er mit leisem Spott zu sich selbst, jetzt, wo es zu spät ist. Jetzt denke ich darüber nach.

Immerhin, so dachte er, brauche ich mir nicht vorwerfen, es nicht gut gemeint zu haben. Das habe ich. Aber ich habe nicht gut genug nachgedacht. Und ich hätte immer prüfen müssen, ob die Übungen die ich vorschlage, den gewünschten Erfolg haben. Ihm war nämlich erst jetzt bewusst geworden, dass es verschiedene Arten von Übungen gibt. Das war etwas ganz einfaches, scheinbar selbstverständliches, aber er hatte nie darüber nachgedacht.

Es gibt Übungen, so war ihm nun klar, die erfüllen ihren Zweck einfach durch ihre Wiederholung: Je mehr Liegestützen man macht, desto kräftiger wird man. Und es gibt Übungen, die erfordern, dass man sich ihnen widmet, sich mit ihnen auseinandersetzt. Wenn man zum Beispiel etwas anfertigen soll, dass bestimmten Bedingungen genügen muss, wie einen Text über ein Thema zu schreiben oder ein genau gearbeitetes Werkstück herzustellen.

Und es gibt Übungen, die beides verbinden. Sie erfordern die Wiederholung UND die Auseinandersetzung. Die Wiederholung bietet dem Übenden die Möglichkeit, Schritt für Schritt immer besser zu werden. Aber erst die Auseinandersetzung mit der Übung ermöglicht es ihm zu erkennen, wo überhaupt Verbesserungen möglich sind.

Und er hatte, wenn er so darüber nachdachte, seinen Schülern nahezu ausschließlich Übungen dieser dritten Art gegeben. Alle diese Übungen sollten seinen Schülern den Weg zu dieser Sache weisen, die er in seinem Inneren machte und die er einfach nicht mit Worten zu beschreiben vermochte. Oft auch nur zu einzelnen Aspekten davon oder zu Zwischenstufen, die aber in die richtige Richtung wiesen. Er hatte auch nie versäumt darauf hinzuweisen, dass fleißiges Üben sie ganz sicher weiterbringen würde.

Einer der Gründe für seinen unbefriedigenden Erfolg als Lehrer mochte darin bestehen, so wurde ihm nun klar, dass er nie erklärt hatte was er meinte, wenn er von Üben sprach. Für ihn war es völlig selbstverständlich gewesen, dass es nicht um die äußerlich sichtbaren Aspekte ging. Es ging immer um das, was im Inneren geschah. Bei einer Meditation ging es also nicht darum, lange still zu sitzen und auf eine bestimmte Weise zu atmen. Bei einer Sprechübung ging es nicht darum, die Worte auf die immer gleiche Weise zu wiederholen. Und bei einer Bewegungsübung war es nicht das Ziel, akkurat bestimmte Bewegungen zu machen. Diese Dinge waren nur der äußere Rahmen. Sie sollten dem Übenden dabei helfen, sich bewusst zu werden, was in seinem Inneren bei der Ausführung der Übung geschah. Dann, so die Überlegung des Meisters, war es doch unvermeidbar zu versuchen, auf das Geschehen im Inneren Einfluss zu nehmen. Und damit wäre der Schüler auf dem richtigen Weg.

Aber hatte er ihnen das jemals so deutlich gesagt? Nein. Das hatte er nicht. Vermutlich hatte er es gelegentlich erwähnt, dann aber eher beiläufig. Etwas Selbstverständlichem gibt man kein besonderes Gewicht. Dabei hätte er es betonen müssen, wieder und wieder.

Ein weiteres Problem war wohl auch, dass die Übungen an sich zwar einfach waren, sich ihre richtige Ausführung für die meisten aber doch als schwierig herausstellte. Dadurch war immer eine recht lange Zeit der Korrektur erforderlich. Denn wie eine Übung ausgeführt wurde, war ja nicht beliebig. Auch wenn das Äußerliche nur den Rahmen bildete - der musste schon stimmen. Schließlich gab er dem Ganzen erst die gewünschte Form.

So waren zum Beispiel auch bei einer ganz einfachen Bewegungsübung regelmäßig eine Vielzahl von Hinweisen erforderlich: Aufrecht stehen, nein, die Knie nicht durchdrücken, den Kopf wieder aufrichten, nein, nicht den Blick heben, nur weil du die Arme hebst und so weiter .... Dadurch wurde schon das Heranführen an die Übungen zu einer langwierigen und kleinteiligen Angelegenheit.

Tatsächlich hatte er sich für alle Übungsformen mit der Zeit ein Sortiment von Richtlinien überlegt, die grundsätzlich galten und auf deren Einhaltung er immer pochen konnte. Für die Bewegungsübungen waren das zum Beispiel: aufrechte Haltung, leicht in die Knie gehen, das Gewicht gleichmäßig auf beide Beine verteilen und noch einige mehr.

Da die Übungen an sich aber wirklich nicht schwierig waren, lernten alle Schüler früher oder später sie durchzuführen. Zumindest so einigermaßen. Und genau darin, so wurde ihm nun klar, lag das Problem. Das Erlernen der Übungsformen erwies sich für seine Schüler bereits als so schwierig, dass sie es als Erfolg betrachteten, wenn sie es dann endlich gemeistert hatten.

Anders ausgedrückt, während er die fehlerfreie Durchführung der Übungen als den Beginn des eigentlichen Übens betrachtete, sahen seine Schüler es als den wesentlichen Lernerfolg an und waren ganz zufrieden damit, sie wieder und wieder zu wiederholen. Das allerdings machten sie sehr fleißig. Und er war es zufrieden gewesen, sie dizipliniert und fleißig üben zu sehen. Ihm war bisher nie bewusst geworden, dass sie die Übungen sonderbarer Weise als etwas Eigenständiges, aus sich selbst heraus Wertvolles betrachteten, ja, betrachten mussten.

Und mit großem Bedauern gestand er sich ein, dass auch das sein Versäumnis war. Aber er würde versuchen, dieses Missverständnis aufzuklären. Nur, wie sollte er das anstellen? Einige seiner Schüler, so wurde ihm klar, machten das schon seit Jahrzehnten so. Er wollte sie nicht vor den Kopf stoßen. Er würde darüber nachdenken.