Notizblock - Meisters Werk 6
Der Meister hatte seit einiger Zeit den Eindruck, dass immer irgendeiner der Schüler alles aufschrieb was er sagte. Derjenige beteiligte sich dann nicht an den Gesprächen, sondern war einzig mit Schreiben beschäftigt.
Der Meister wusste nicht so recht, was er davon halten sollte. Offensichtlich hatten sie sich verabredet seine Worte festzuhalten. Aber wozu? Wenn sie eine Frage hatten, konnten sie sich doch jederzeit an ihn wenden. Dann wurde ihm bewusst, wie alt er war. Natürlich! Sie wollten für die Zeit vorsorgen, wo sie ihn eben nicht mehr fragen konnten.
Nun gut, vielleicht war es wirklich sinnvoll seine Worte zu notieren. Aber das allein würde nicht genügen. Vieles was er sagte, war auf den Augenblick bezogen, auf die jeweilige Situation, auf denjenigen zu dem er es sagte. Praktisch immer setzte er Dinge voraus, über die sie bei anderer Gelegenheit gesprochen hatten. Notierten sie diese Dinge auch? Er bezweifelte es.
Überhaupt. Aufschreiben was er sagte ... es war ihm irgendwie unangenehm. Sicher, seine Erkenntnis war ... recht hübsch. Aber es gelang ihm ja nicht, sie weiterzugeben. Seine Zeit war begrenzt, sie würde schon bald zu Ende gehen, diese Notizen aber würden ihn überdauern. Dafür waren sie ja da. Und wenn, nur mal angenommen, seine Methode sich irgendwie ausbreiten würde. Zum Beispiel, weil seine Schüler auf die Idee kämen, aller Welt davon zu berichten. Dann wären diese Notizen die Grundlage für alles Kommende.
Ihm war bewusst, dass er im Land eine gewisse Bekanntheit hatte. Immer wieder kamen Besucher, die sich um Rat an ihn wandten. Auch kamen immer wieder neue Schüler; nicht alle blieben, aber ihre Zahl wuchs doch beständig. Wenn seine Schüler nun diese Notizen veröffentlichten, würde es womöglich ein Kult werden, eine Buchreligion. Ein Kult, der behauptete: Lies das, hier steht alles drin. Lebe danach und du wirst glücklich sein!
Dabei wäre es tot, von der wesentlichen Essenz befreit. Worte konnten das Wesen seiner Kunst nicht vermitteln, genau das war ja sein großes Problem.
Er nahm sich vor, mit seinen Schülern bei einer passenden Gelegenheit mal darüber zu reden. Er wollte ihnen auch sagen, dass, sollten sie seine Methode irgendwann selbst als Lehrer weitergeben, sie es unbedingt auf ihre eigene Weise tun müssten und sich keinesfalls an seine Worte klammern dürften. Jeder Mensch ist anders, jeder macht andere Erfahrungen, trägt etwas Neues zum Ganzen bei. Auch die Welt verändert sich, was heute undenkbar war, ist morgen allgegenwärtig. Deshalb muss eine Methode, die den Menschen etwas geben will, die sie zu besseren, glücklicheren Menschen machen will, offen für Veränderungen sein. Sie muss leben, muss an die jeweiligen Gegebenheiten angepasst werden.
Er war sehr skeptisch, ob das mit schriftlich niedergelegten Texten möglich war. Wie sollte das auch gehen? Sollte jede Gruppe, jede Generation den Text an die eigenen Vorstellungen anpassen? Vielleicht wäre das eine Möglichkeit, aber dafür müsste von Anfang an klar sein, dass der Text nur ein Gerüst darstellt, das eigenen Ideen eine Stütze bieten soll. Aber das würde so einem Text natürlich jede Wucht, jede Überzeugungskraft nehmen.
So dachte er für einige Zeit über diese Frage nach, aber schließlich schalt er sich selbst einen Narren: Ich bin ein alter Mann mit einer handvoll Schüler, in einem entlegenen Winkel der Welt. Weitab von den wichtigen Mächten und großen Städten. Nichts von dem was wir hier machen, wird jemals irgendeine Bedeutung erlangen. Vielleicht erzählt der eine oder andere irgendwann seinen Kindern von den Erlebnissen seiner Jugend. Und sicherlich wird es meinen Schülern helfen, etwas glücklichere Menschen zu werden - aber darüber hinaus? Nein. Es kann nicht geschehen.
Und so beschloss er, nichts gegen die Notizen zu unternehmen und richtete seinen Unterricht weiterhin so gut er konnte auf seine Schüler, ihre Fragen und die jeweiligen Umstände aus.