Lehrerfolge - Meisters Werk 3
Als das Leben des Meisters sich dem Ende näherte, beschlich ihn der Gedanke, dass er wohl kein besonders guter Lehrer war. Genau genommen sogar ein eher schlechter.
Das soll nicht heißen, dass er seine Fähigkeit nicht mehr beherrschte. Er beherrschte sie meisterhaft. Viele Jahrzehnte hatte er daran gefeilt, hatte nie in seinem Bemühen darum nachgelassen und sie - aus seiner Sicht - zur Perfektion entwickelt. Sie stand ihm jederzeit zur Verfügung. Man könnte ihn aus tiefstem Schlaf wecken und er könnte sofort darauf zugreifen. Er hatte sich von seinen Schülern ablenken lassen, von mehreren gleichzeitig. Sie hatten ihn gekitzelt, mit Tomaten beworfen, hatten gesungen, geschrien und ihn mit Wasser bespritzt. Er hatte sie sogar aufgefordert ihn anzugreifen, nach ihm zu schlagen. Nichts konnte ihn aus der Ruhe bringen. Die Fähigkeit war immer da, zuverlässig und hundertprozentig.
Nein, das Problem war, dass er sie seinen Schülern nicht vermitteln konnte. Er war ein Meister seines Faches, aber kein meisterhafter Lehrer.
Einige seiner allerersten Schüler waren nach wie vor bei ihm, mittlerweile also seit mehreren Jahrzehnten. Und trotz dieser langen Zeit, trotz ihres Eifers und ihrer nie nachlassenden Wissbegierde, beherrschten sie die Fähigkeit noch immer nicht.
Selbstverständlich hatten sie im Laufe der Zeit viel gelernt und ihre Fähigkeiten gingen weit über die anderer Menschen hinaus, aber von seinem Grad der Beherrschung trennten sie eben immer noch Welten. Sie selbst wussten das und es war auch ihm schmerzlich bewusst. Merkwürdigerweise schien es ihnen allerdings gar nichts auszumachen. Es war, als erwarteten sie gar nichts anderes als für immer seine Schüler zu sein.
Aber genau das war es, worum es ihm ging; worum es seiner Ansicht nach jedem Lehrer gehen musste: Dass er seinen Schülern alles beibrachte was er wusste, so dass sie irgendwann sein Niveau erreichten und von da an ihre Kunst selber zu neuen Höhen weiterentwickeln würden; auf ihre Art. Die sie dann wieder an ihre Schüler weitergeben würden, die dann wiederum sie überträfen und so weiter ...
Das schien ihm völlig selbstverständlich zu sein. Anders ging es nicht. Jeder Meister seines Faches hatte irgendwann selbst als Schüler begonnen. Denn keine Fertigkeit der Menschen war vom Himmel gefallen. Sie waren alle über die Jahrzehnte, Jahrhunderte und vielleicht sogar Jahrtausende von denen die sie ausübten, Stück für Stück weiterentwickelt worden. Egal was es war, irgendwann hatte jemand etwas zum ersten Mal gemacht.
Zum Beispiel hatte vermutlich irgendwann mal jemand in einen hohlen Knochen geblasen und verschiedene Töne erzeugt. Was er hörte gefiel ihm. Er entdeckte ein Loch darin, hielt es zu. Blies wieder hinein. Es klang anders. Irgendwann bohrte er ein weiteres Loch. Hielt beide zu, öffnete sie abwechselnd. Was er nun hörte, gefiel ihm noch besser. Es gefiel auch den anderen und sie baten ihn, es zu wiederholen. Fremde denen sie begegneten hörten es und machten es ihm nach. Benutzten andere Knochen, bohrten andere Löcher, bliesen anders hinein. Irgendwann kam jemand auf die Idee, es mehrere gleichzeitig tun zu lassen. Jemand anders bemerkte, dass er die Menschen mit seinem Spiel fröhlich oder traurig machen konnte. Je nachdem wie er hineinblies. Und manchmal mussten seine Zuhörer einfach wild herumspringen.
Vielleicht war so irgendwann die Musik entstanden. Heute gab es viele Menschen, die ihr ganzes Leben dieser Kunst widmeten. Und andere, die sich völlig der Herstellung immer besserer Instrumente verschrieben hatten.
Er hatte mal jemanden, einen Maler, der wundervolle Gemälde schuf, sagen hören: Wir alle stehen auf den Schultern von Riesen. Das hatte ihm gefallen. Dass der Maler die Erkenntnisse früherer Künstler anerkannte. Dass ihm bewusst war, hätte er selbst bei Null angefangen, hätte er kein einziges Vorbild gehabt - er würde wohl nicht mehr als Kritzeleien hervorbringen.
Heute dachte der Meister, dass der Gedanke zwar schön, das Bild aber vielleicht nicht ganz richtig war. Wahrscheinlich war es eher eine Pyramide, die den Künstler auf diese Höhe brachte. Eine Pyramide aus zahllosen normalgroßen Menschen. Wobei, auch das war nicht ganz richtig. In ihrer Zeit waren sicherlich viele dieser Menschen Riesen gewesen. In dem Sinne, dass sie neue, nie dagewesene Ideen hatten, sie verwirklichten und dafür sorgten, dass sie weitergegeben wurden. Aber es waren eben viele, sehr viele Menschen, die im Laufe der Zeit immer etwas zum großen Ganzen hinzugefügt hatten. Manche mehr, manche weniger.
Vielleicht steckte in diesen Überlegungen ja auch ein Hinweis auf sein eigenes Problem, denn er hatte ja nichts weiterentwickelt das es schon gab. Seine Gabe war ihm zugefallen. Er war sozusagen dieser erste Mensch, der versuchsweise in einen hohlen Knochen blies. Er konnte auf kein vorhandenes Wissen zurückgreifen und vor allem, das hatte er als großes Problem erkannt, hatte er keine Worte um zu beschreiben was er tat.
Denn, und das war eine andere Schwierigkeit, die ihn immer wieder verzweifeln ließ, seine Kunst spielte sich gänzlich in seinem Inneren ab. Er konnte nichts vormachen, das man sehen und nachahmen konnte. Um sie seinen Schülern zu vermitteln, war er gänzlich auf Worte angewiesen. Zwar war er mittlerweile so sicher in der Beherrschung seines inneren Wesens, dass er zum Beispiel Glück oder andere Gefühle regelrecht ausstrahlen konnte. Jeder fühlte es, niemand konnte sich dem entziehen. Aber äußerlich war nichts zu sehen, nicht die kleinste Regung.