DINGS OHNE D

Dorfgespräche und andere Geschichten

Lernerfolg - Meisters Werk 5

Dass er als Lehrer so wenig vermochte, betrübte den Meister. Er hatte den Eindruck, seinen Lebenssinn verfehlt zu haben, seiner Bestimmung nicht gerecht geworden zu sein. Nun ja, das war nicht wortwörtlich was er dachte. Er glaubte nicht an so etwas wie eine Bestimmung und wusste auch von keinem Sinn des Lebens. Er hielt sich an die Dinge die er wusste und so wie er es sah, wurde man geboren, lebte und starb irgendwann. Und während man lebte versuchte man kein opulitato zu sein und tat, was eben zu tun war (opulitato bezeichnet in der Sprache des Meisters das besonders ungepflegte Ende eines entzündeten Ausscheidungskanals). Es mochte durchaus sein, dass es darüber hinaus noch mehr gab - aber darüber wusste er eben nichts und seiner Ansicht nach konnte man darüber auch nichts wissen.

Aber natürlich war ihm bewusst, dass es Religion gab und dass diese durchaus der Ansicht war, über diese Dinge etwas sagen zu können. Er war schließlich einige Jahre lang in die Tempelschule gegangen und das heilige Buch war dort als das einzig erforderliche Unterrichtsmaterial angesehen worden. Er war gerne dort hingegangen, auch wenn die Lehrer immer sehr streng waren. Aber das hatte aus ihm keinen religiösen Menschen gemacht, im Gegenteil.

Er hatte bereits am ersten Tag des Unterrichts beschlossen - zum Glück, wie er bis heute dachte - alles was er dort hörte als Geschichten zu betrachten. Geschichten wie seine Großmutter sie ihm erzählte. In denen ging es um mächtige Leute, Könige und Sultane und ihre Kinder, Prinzen und Prinzessinnen. Aber auch um ganz einfache Menschen, Handwerker oder Händler und oft sogar um Bettler und Hausierer. Es gab Tiere wie er sie noch nie gesehen hatte, die sprechen konnten oder Feuer spien - und oft sogar beides. Manchmal traten darin auch sonderbare Wesen auf: Zauberer und Hexen, Riesen und Zwerge, dienstbare Geister und furchtbare Unholde. Und immer handelten die Geschichten von den wundersamsten Ereignissen. Manchmal waren sie verblüffend, manchmal traurig, manchmal auch lustig. Aber immer waren sie spannend.

Anfangs hatte er die Geschichten vielleicht sogar für wahr gehalten, das wusste er nicht mehr. Allerdings konnte seine Großmutter ihm jederzeit genau die Geschichte erzählen, die er gerade hören wollte. Wenn sie zum Beispiel begann, die Geschichte des Müllers auf Wanderschaft zu erzählen, würde er vielleicht einwerfen, dass der doch diesmal die freundliche Hexe aus der Geschichte von gestern treffen könnte. Und dann könnten sie gemeinsam dafür sorgen, dass die Wölfe, die die Prinzessin im Wald umzingelt hatten, von einem Drachen verjagt wurden, welcher der Hexe noch einen Gefallen schuldete. Oder so.

Und seine Großmutter würde dann genau diese Geschichte erzählen und zwar mit so vielen spannenden Wendungen, dass sie an diesem Tag gar nicht damit fertig würden. Geschichten, das war also seine Erfahrung, legte man sich so zurecht, wie es einem passte. Hauptsache sie klangen gut. Und waren spannend. Am besten beides. Natürlich waren sie etwas Ausgedachtes.

Dieser Erfahrung verdankte er denn wohl auch den ersten (und, wie er fand, wichtigsten) Lernerfolg seiner Schulzeit. Der erste Schultag begann nämlich damit, dass der Lehrer mit ihnen vors Haus trat und sie mit großer Geste fragte »Habt ihr euch schon einmal gefragt, woher all das kommt? Der Wald, das Meer, der Himmel? Die Vögel in der Luft, die Fische im Wasser, all die Tiere im Boden, auf den Bäumen und darunter? Und wir, die Menschen? Wo kommt all das her?«

Natürlich sagte keiner der Schüler etwas und der Lehrer führte sie mit den Worten »Ich werde es euch erzählen. Kommt mit.», wieder ins Haus. Drinnen erklärte er dann, dass es der Schöpfer war, der alles erschaffen hatte. Die Erde selbst und auch alles was es darauf gab. Die Vögel am Himmel genauso wie die Sterne der Nacht und die Sonne, die am Tag Licht und Wärme spendet. Und natürlich auch die Menschen. »Jeden einzelnen von euch«, er zeigte auf die Kinder. Er erklärte genau, in welcher Reihenfolge der Allmächtige alles geschaffen und wie lange er dafür jeweils gebraucht hatte. Und schließlich sagte er auch noch, wie zufrieden der Schöpfer war, als er nach getaner Arbeit sein Werk in Ruhe betrachtete.

Der kleine Junge (der der Meister damals noch war) hatte sich das durch den Kopf gehen lassen, dann seinen ganzen Mut zusammengenommen und den Lehrer gefragt, woher dieser das wisse. Der schien sich darüber zu freuen. Das sei eine großartige Frage, hatte er anerkennend gesagt und dass er offensichtlich ein kluger Bursche sei. Und er hatte zu einem dicken Buch auf seinem Pult gegriffen und gesagt: »Es steht hier drin. In unserer Heiligen Schrift, gleich zu Beginn.« Und er hatte etwas vorgelesen, das tatsächlich genau das beschrieb, was er vorher erzählt hatte. In weniger Worten, aber dafür in sehr viel blumigerer Sprache.

Als er fertig war klappte er das Buch wieder zu und sah sie strahlend an. »Da staunt ihr, nicht wahr? Ja, es steht alles geschrieben.«

Der junge Meister hatte sich auch das durch den Kopf gehen lassen und sich dann wieder gemeldet, um eine weitere Frage zu stellen. Der Lehrer wandte sich ihm wohlwollend zu und sagte anerkennend: »Du bist ja wirklich sehr wissbegierig, was möchtest du denn noch wissen?«

Der Meister wählte seine Worte sorgfältig, ihm war irgendwie nicht ganz wohl dabei, aber der Lehrer schien sein Interesse ja zu schätzen. Also sagte er: »Woher wusste denn derjenige, der das heilige Buch schrieb, dass die Schöpfung genau so geschehen war? Wenn es doch am Anfang gar nichts gab und der Mensch erst ganz zum Schluss erschaffen wurde?«

Plötzlich war alle Freundlichkeit aus dem Gesicht des Lehrers verschwunden. Er brüllte. Was er denn glaube, wer er sei, die heiligen Worte in Frage zu stellen? So ging es eine ganze Weile. Der Meister fühlte sich sehr unbehaglich, niemand wird gerne angebrüllt. Aber ihm wurde in diesem Moment auch klar, dass in dem Buch Geschichten standen, die Menschen sich ausgedacht hatten. Dass der Lehrer das aber nicht wusste. Oder nicht wissen wollte. Und diesen Gedanken bewahrte er die ganzen Jahre über in seinem Herzen. Es sind nur Geschichten.

Er hörte sie sich gerne an und lernte auch viele von ihnen auswendig. Er konnte jede Frage beantworten, die die Lehrer stellten. Aber er machte nie wieder den Fehler, selbst eine zu stellen. Und er verkniff sich auch immer den Vorschlag, die Geschichten doch mal anders zu erzählen.