Schuldenfrei
Hallo mein Alter,
gestern kam ein junger Mann, Pa'Ula habe ich ihn früher immer genannt, mal wieder nach Hause. Er hat vor ein paar Monaten eine Ausbildung begonnen und das ist in der Uckermark, also genau auf der anderen Seite Berlins. Ein weiter Weg. Als ich mit ihm sprach, fiel mir etwas Sonderbares auf. Aber vor allem fiel mir die Geschichte über seinen Namen wieder ein. Und beides erzähle ich dir heute.
Er kam mit seinem Vater vor ... na, so zwölf oder dreizehn Jahren zu uns. Da war er drei und sie hatten schon über zwei Jahre in Flüchtlingscamps gelebt. Dann kamen sie irgendwie zu uns. Und sie blieben. Keoma, sein Vater, war ein freundlicher, aber ziemlich in sich gekehrter Mensch. Er war ein einfallsreicher und geschickter Handwerker, war aber oft krank. Vor zwei Jahren ist er gestorben und ich vermisse ihn, obwohl wir nie besonders viel geredet haben.
Irgendwann aber saßen wir nach der Arbeit mal beide zusammen, da fragte er mich, warum ich den Namen seines Sohnes immer so sonderbar ausspräche. So auf dem U betont. Ob denn A U im deutschen nicht au gesprochen würde. Doch, doch sagte ich, das sei schon richtig. Aber dann hieße sein Sohn Paula und das sei ein Mädchenname. Und sie kämen doch aus der Südsee, würden die Vokale da nicht einzeln gesprochen?
Daraufhin schwieg er lange, nickte immer mal vor sich hin und ich sah die verschiedensten Emotionen über sein Gesicht huschen. Er setzte einige Male an etwas zu sagen, doch nie kam etwas heraus. Aber schließlich erzählte er es mir.
Sie kommen von einer dieser unzähligen Insel im Südpazifik, den Namen habe ich vergessen, die durch den Meeresspiegelanstieg nach und nach unbewohnbar wurden. Die Inseln schrumpften, das Süßwasser wurde immer weniger, dafür die Stürme und Springfluten immer heftiger. Nach und nach verließen die Menschen die Inseln, es ging gar nicht anders. Sie versuchten andere Inseln zu erreichen oder sogar Australien oder Neuseeland - manchen gelang es, anderen nicht. Auf diesen Weg machte sich irgendwann auch Keoma mit seiner Familie, seiner Frau, dem wenige Monate alten Sohn und zwei weiteren Kindern. Ein Junge, der glaube ich acht war und ein sechsjähriges Mädchen. Sie hatten schon oft darüber gesprochen, ob sie versuchen sollten, sich anderswo ein Leben aufzubauen, konnten sich aber nie entschließen ihre Heimat zu verlassen, alles aufzugeben. Sie wussten, wenn sie gingen, würden sie nie mehr zurückkehren. Aber dann kam die Sturmwarnung. In spätestens einer Woche war ein Orkan zu erwarten, der auf ihrer Insel keinen Stein auf dem anderen lassen würde. Alles was schwamm wurde deshalb herangeholt, um die Bewohner der Inseln zu evakuieren.
Es kam so, wie es viel zu oft geschah: Sie kamen in schlechtes Wetter und ihr Kahn, bis an die Grenze beladen, kenterte. Zum Glück war es nicht der Orkan, einfach nur ein Tropensturm, aber er genügte völlig. Als es geschah hatte er seinen kleinen Sohn im Arm, zum Glück. Es gelang ihm irgendwie wieder an die Wasseroberfläche zu kommen ohne den Kleinen loszulassen und er fand sogar seine Frau wieder. Die beiden anderen Kinder blieben allerdings verschwunden. Habe ich erwähnt, dass es Nacht war?
Um es kurz zu machen - ich muss dir sagen, dass mich jedes Mal der Horror packt, wenn ich nur daran denke - als es nach endlosen, stürmischen Stunden schließlich Tag wurde, war die See wieder ruhig und sie waren völlig allein. Und vollkommen erschöpft. Sie hatten zwei untaugliche Schwimmwesten und trieben irgendwo im Pazifik. Man kann sich wohl nicht verlassener fühlen.
So trieben sie im Meer, erzählte er, der Tag zog sich endlos hin. Er hat überhaupt keine Hoffnung, dass sie gerettet werden könnten, aber er kann, er darf nicht darüber nachdenken. Er muss sich völlig darauf konzentrieren, seinen und den Kopf seines Sohnes über Wasser zu halten. Irgendwann verschwand seine Frau. Wahrscheinlich hatte sie keine Kraft mehr und keine Hoffnung. Sie glitt aus ihrer Schwimmweste und versank einen Meter neben ihm und er konnte nichts tun um ihr zu helfen. So war er mit dem Kleinen, den er krampfhaft an seine Brust drückte, allein und es wurde schon wieder dunkel. Er erzählte mir, dass er kurz davor war aufzugeben. Er konnte ja sowieso nicht mit Hilfe rechnen, woher hätte die denn kommen sollen? Er schrie herum, erzählte er, er beschimpfte die Götter und verfluchte sie. Und plötzlich meinte er eine Stimme zu hören, eine Stimme, die ihm Mut zusprach. Sie schien Englisch zu sprechen, er meinte die Wörter Rettung und Hilfe zu verstehen. Und plötzlich war es um ihn herum hell, er war inmitten eines Lichtkegels. Er sah sich um, aber da war nichts, schon gar kein Schiff mit einem Scheinwerfer. Aber das Licht blieb und auch die Stimme wiederholte freundlich die immer gleichen, aufmunternden Worte. Und deshalb gab er doch noch nicht auf, sondern schaffte es irgendwie, sich weiter über Wasser zu halten.
Und dann kam irgendwann, es war mittlerweile tiefe Nacht, tatsächlich ein Boot. Ein nicht besonders großes Schlauchboot kam rasend schnell auf ihn zu und hielt direkt neben ihm an. Er konnte es nicht glauben, dachte, er hätte Halluzinationen, aber er hörte eine beruhigende Stimme und ein Mann streckte ihm eine Hand entgegen. Da löste er sich aus seiner Erstarrung und reichte seinen Sohn nach oben - das heißt, er versuchte es. In dem Moment, in dem er ihn von seiner Brust löste, entglitt der Kleine seinen kraftlosen Händen und versank. Er erzählte mir, dass er diesen Moment wieder und wieder durchlebt hat. Jahrelang wachte er Nacht für Nacht aus diesem Alptraum auf. Die Erinnerung überfällt ihn am Tag und in der Nacht, wie in Zeitlupe erlebt er es wieder und wieder.
Aber nahezu im gleichen Moment hört er auf dem Boot einen Ruf und es platscht neben ihm, scheinbar ist jemand ins Wasser gesprungen. Eine Ewigkeit später taucht jemand wenige Meter entfernt auf ... und hat seinen Sohn im Arm. Natürlich, sagte er, war es keine Ewigkeit. Es fühlte sich nur so an. Und auch in seiner Erinnerung sei es so. Tatsächlich waren es vermutlich nur einige Sekunden. An mehr kann er sich nicht erinnern. Er ist erst zwei Tage später auf der Krankenstation wieder zu Bewusstsein gekommen. Da hat er auch erfahren, dass er sich die Stimme und das Licht nicht eingebildet hat, sondern dass ihn eine der Suchdrohnen dieses Rettungsschiffes entdeckt hatte. Und weil sie auf dem Schiff gesehen hatten, in wie schlechtem Zustand er war, hatten sie das Schlauchboot vorausgeschickt. Es sei ein Wunder, sagte der Arzt, dass er so lange durchgehalten habe. Er sei völlig dehydriert, unterkühlt und eigentlich mehr tot als lebendig. Aber sie würden das wieder hinbekommen. Und auch sein Sohn würde überleben.
Er konnte sich das zu diesem Zeitpunkt nur anhören, sprechen konnte er noch nicht. Als das wieder ging, fragte er zuerst nach dem Retter seines Sohnes. Er hatte sich viele Gedanken darüber gemacht, wie er seine Dankbarkeit zum Ausdruck bringen könnte. Letzten Endes besaß er nichts, buchstäblich überhaupt nichts mehr; vielleicht noch einige Kleidungsstücke. Aber selbst das bezweifelte er - zu recht, wie sich später herausstellte. Deswegen hatte er sich überlegt, dass er zumindest seinem Sohn den Namen seines Retters geben würde. Da erfuhr er, dass der Retter eine junge Frau namens Paula war.
Es fiel ihm sehr schwer das zu glauben. In seiner Welt gab es keine Frauen die in kleinen Booten nachts auf dem Meer herumdüsten und Heldentaten vollbrachten. Aber später besuchte sie ihn auf der Krankenstation und bestätigte die Geschichte. Als er es mir erzählte sagte er, dass er damals auch den Eindruck hatte sie wiederzuerkennen, aber wie ein Gesicht aus einem Traum, nicht wie jemanden den er kennt ... Also würde er seinen Sohn Paula nennen. Er erzählte mir, dass er es wirklich wollte ... aber er musste es auch. Er hatte dem Retter seines Sohnes gegenüber eine praktisch nicht zu tilgende Ehrenschuld und er sah keine andere Möglichkeit diese zu begleichen. Es war auch gleichgültig, dass diese Paula dem scheinbar keine besondere Bedeutung beimaß, sich nur freute, dass sie beide wohlauf waren - in seiner Kultur waren Fragen der Ehre wichtig.
Er erklärte es Paula also und fragte, ob sie einverstanden wäre. Selbstverständlich, sagte sie, es sei ihr eine Ehre. Aber es gäbe auch eine männliche Form ihres Namens: Paul. Und er könne seinen Sohn doch auch so nennen, das wäre doch Erinnerung genug. Aber davon wollte er nichts wissen. Sein Sohn verdanke Paula sein Leben und das sei von nun an sein Name. Und er hoffe sehr, dass er sich des Namens würdig erweisen werde.
So kam also Paula - wie ich ihn von nun an auch nannte - zu seinem Namen. Mittlerweile scheint er mir ein ganz normaler Teenager zu sein, nur ins Wasser geht er nicht. Die anderen haben mir erzählt, dass er es ein paar mal versucht hat, aber es geht einfach nicht. Sobald er nur mit den Füßen im See steht, erstarrt er buchstäblich und fängt an zu zittern. Dann müssen sie ihn tatsächlich raustragen, weil er sie auch gar nicht zu hören scheint. Naja, wenn man seine Geschichte bedenkt, ist das wohl verständlich.
Das ist also die Geschichte von Paula und Keoma, seinem Vater. Wie ich sie so aufschreibe, steht mir wieder die ganze Situation vor Augen, wie wir beide da, sägemehlbedeckt, vor der Werkstatt saßen. Und mir fällt ein, wie ich mich schämte für etwas das auch damals schon viele Jahre zurücklag. Dass ich nämlich lange meinte, Flüchtlinge die zu uns kommen, machen hier eigentlich Urlaub. Zu der Zeit hatten wir schon einige Dutzend Flüchtlinge aufgenommen und meine Meinung hatte sich komplett geändert, aber naja, bei Keomas Geschichte fiel es mir eben wieder ein.
Aber wie soll das Urlaub sein? Urlaub, Ferien, das ist ein Ausflug den man zum Vergnügen von seinem sicheren Zuhause aus macht. Ein Zuhause in das man jederzeit zurückkehren kann, in sein bequemes Leben, von dem man mal eine Abwechslung haben möchte. Kein Flüchtling hat so ein Zuhause. Alle lieben ihre Heimat und schwärmen mir davon vor - aber aus den verschiedensten Gründen können sie dort einfach nicht mehr leben.
Genug davon. Ich wollte ja noch erzählen, was mir an Paula auffiel. Es wird dir gefallen, es hat mit Geld zu tun - aber ich kann mir noch nicht so richtig einen Reim darauf machen.
Paula jedenfalls besuchte uns zum ersten Mal seit seinem Ausbildungsbeginn und netterweise kam er zuerst direkt zu mir. Ich fragte ihn also wie es ihm in der Schule so geht, es muss wohl eine Art Internat sein, da sie dort auch wohnen und wie es ihm gefällt. Was man halt so fragt. Er ist eher ein ruhiger Typ ... so einer, dem man jedes Wort aus der Nase ziehen muss. Naja, es scheint ihm gut zu gehen und auch Spaß zu machen - ich habe nur nicht so richtig verstanden was für eine Ausbildung das ist. Nach seiner Beschreibung hört es sich an wie eine Mischung aus Zimmermann, Biologe und Elektroniker. Dazu noch ein bisschen Förster. Was für mich nicht so recht zueinander zu passen scheint; aber was weiß ich schon. Die Leute haben heutzutage alle so merkwürdige Berufe. Oder gleich mehrere.
Als ich jedenfalls merke wie er unruhig wird, weil er offensichtlich gerne wieder zu den anderen verschwinden würde, frage ich ihn noch ob er Geld braucht. Weil, junge Leute brauchen doch immer Geld, oder? Und ich geb doch gar nichts mehr aus. Aber er sagt, dass er nichts braucht. Tatsächlich scheint er meine Frage irgendwie abwegig zu finden. Aber du wirst doch da eine Weile sein, sage ich. Drei Jahre, oder? Er nickt. Da willst du doch sicher irgendwas anschaffen? Brauchst mal neue Sachen, willst ein Mädchen einladen ... was weiß ich ...
Aber er versteht mich gar nicht! Nein, sagt er, wofür solle er Geld brauchen? Und, fügt er noch an, er mache auch keine Schulden.
Genau, sage ich. Das brauchst du ja auch nicht, weil ich dir das Geld ja schenken würde.
Und dann schaut er mich so an, wie mich die jungen Leute immer alle anschauen. Freundlich, irgendwie sogar liebevoll ... aber auch mitleidig. Auf ihrer Stirn steht dann ganz deutlich: Du verstehst es ja doch nicht.
Na okay, sage ich schließlich, sag halt Bescheid wenn du was brauchst. Und jetzt geh lieber runter, die anderen warten sicher schon auf dich.
Er nickt, sichtlich erleichtert und dreht sich zur Tür, überlegt es sich dann aber anders, kommt zu mir, beugt sich herab und drückt mich einmal fest. Ich bin ganz verblüfft, das hat er schon ziemlich lange nicht mehr gemacht. Er lächelt mich an und ist mit wenigen Schritten aus der Tür.
Ich sag dir was: Es ist schön, diese jungen Menschen um sich zu haben. Ich verstehe nicht was sie machen und was sie so umtreibt - aber es ist schön dass sie da sind. Ich freue mich immer wieder darüber.
Wo war ich gerade ...?
Ach ja, das mit dem Geld und den Schulden. Das habe ich nämlich schon öfter Leute sagen hören, dass sie keine Schulden machen wollen. Obwohl es gar nicht um große Anschaffungen ging. Und das ein junger Mann kein Geld braucht ... das ist doch nicht normal. Ich glaube da spreche ich mal mit Farid drüber. Er hatte doch letztens erzählt, dass sie dem Geld seine Bedeutung nehmen wollen. Ich hab das einfach so hingenommen, aber vielleicht ist da mehr dran. Er wohnt für ein paar Monate bei uns, da werde ich sicher demnächst eine Gelegenheit finden ihn zu fragen.
Du hörst also bald wieder von mir. Versprochen.
Mach's gut.